Ralf Haska, Pfarrer in Deutschland, Bayern, war von 2009 bis 2015 Pastor in Kiew und hat die friedliche Revolution in der DDR „zumindest in Teilen oder da, wo er grade war, mitbekommen“, sowie die „Revolution der Würde“ (Euromaidan). Er war damals 23 Jahre alt und kommt aus Ost-Deutschland.
Was unterschied die Wiedervereinigung von der „Revolution der Würde“?
Ein großer Unterschied: Die Revolution in DDR war tatsächlich eine friedliche Revolution, die 1989 ohne Blutvergießen verlief. Und in der Ukraine hatten wir bei der „Revolution der Würde“ den Fall, dass viele Menschen gestorben sind.
Ein weiterer großer Unterschied: in der DDR konnten sich die beiden deutschen Staaten sehr schnell vereinigen und in der Ukraine gab es einen sehr schnellen Überfall Russlands auf die Krim und dann im Donbass, aus dem der jetzt immer noch anhaltende Krieg entstanden ist.
Ähnlich war die große Hoffnung der Menschen, die damals auf die Straßen gingen, sowohl 1989 in Deutschland, als auch 2013/2014 in der Ukraine. Wenn man sich heute an die „Revolution der Würde“ erinnert, wird ganz schnell auf die schweren Auseinandersetzungen in der Gruschewskogo- und dann in der Institutska-Straße geschaut. Aber es gab zuvor auch einen tanzenden, fröhlichen Maidan, mit sehr viel Hoffnung, Gesang, mit einer eigenen Universität, mit Vorlesungen von Professoren, mit Gebeten, Gottesdiensten und so weiter. Eine wichtige Motivation war auch Reisefreiheit ohne Visum.
Bei uns in der DDR gab es damals auch eine große Hoffnung, dass man das kommunistische Regime soweit zurückdrängt und einen demokratischen Weg für das Land findet. Es war nicht von Anfang an ausgemacht, dass es eine Wiedervereinigung geben würde, sondern es gab auch große Diskussionen, ob nicht vielleicht ein eigener Weg gefunden wird. Die Wiedervereinigung stand am Anfang nicht im Vordergrund.
Da war auch erstmal die Hoffnung auf Reisefreiheit, denn das war zu DDR-Zeiten bei der Revolution ein ganz großer Punkt vieler Menschen, die sie angetrieben hat, dass sie sich einfach frei bewegen wollten – im eigenen Land, aber auch in Europa und in dieser Welt.
Als Sie auf Maidan gingen, wurden Sie darum gebeten oder war es Ihre Entscheidung?
Das war meine eigene Entscheidung. Ich habe damals schnell gemerkt: da, wo hunderttausende Menschen zusammenkommen, ist ein gewisser historischer Moment. Ich habe mich sofort an die friedliche Revolution in der DDR erinnert gefühlt. Hunderttausende Menschen gingen am 21. November 2013 auf die Straße.
Mir war immer wichtig, dass ich die Menschen in Deutschland darüber informiere, was in der Ukraine vor sich geht. Auch zusammen mit meiner deutschen lutherischen Gemeinde. Mir war immer wichtig, diese Informationen weitergeben zu können. Deshalb bin ich von Anfang an immer mit meiner Videokamera los und habe all diese Demonstrationen und Ereignisse auf Kamera festgehalten und viel davon ins Internet gestellt.
Sie sprechen Russisch, aber kein Ukrainisch. Hatten Sie deshalb Probleme?
Russisch war nie ein Problem. In der deutschen Gemeinde überwog damals sogar Russisch. Die Erklärung dafür: Deutsche wurden 1941 vom Schwarzmeer und von der Krim nach Kasachstan und Sibirien deportiert worden. Als sie wieder zurückdurften, zum Beispiel nach Kiew, haben sie natürlich Russisch gesprochen. Auch unten auf Maidan war es nie ein Problem. Ich habe gehört, dass sie sich untereinander Ukrainisch unterhalten haben, allerdings, wenn ich mit den Leuten gesprochen habe, haben sie sofort ins Russische gewechselt.
Hatten Sie Probleme mit der Staatsmacht?
Gleich am Anfang der Revolution haben wir in St. Katarina Gottesdienst gefeiert. St. Katarina liegt gegenüber dem Sitz des ukrainischen Präsidenten. Zwischen unserer Kirche und diesem Sitz gab es ein Lager mit Demonstranten. Dieses Lager wurde von Sicherheitskräften beobachtet, sie haben die Leute vom Sitz des Präsidenten ferngehalten. Es gab einmal einen Vorfall, als sich zwei der Sicherheitskräfte in voller Montur hinten in den Gottesdienst setzten. Das war merkwürdig. Es war ein Zeichen: wir haben Euch im Blick.
Am 9. Dezember wurde dieses Protestlager geräumt. Es gab eine Auseinandersetzung zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften. Damals gab es zum ersten Mal Verletzte und sie wurden in der Kirche behandelt.
Am 21. Februar 2014, also einen Tag nach den Morden in der Institutska-Straße, dem ersten ruhigen Tag, gab es die Anweisung, dass alle Sicherheitskräfte ihre Waffen abgeben. Aber vor unserer Kirche standen sie immer noch mit ihren AK47 und da ging ich zu Sicherheitskräften und fragte: Warum habt ihr die noch in der Hand? Antwort: das sind Attrappen, das sind keine richtigen Waffen. Natürlich gelogen. Aber ich habe das gefilmt. Man hat sich damals nicht an Anweisungen und Vereinbarungen gehalten.
Ich habe einmal erlebt, dass mir einmal einer der Sicherheitskräfte meine Kamera wegnehmen wollte, aber er ging wieder. Und am 18. Februar wurde versucht, mir die Kamera aus den Händen zu schießen.
Und kann man einen Vergleich zu den Ereignissen 1989 bezüglich der Gewalt ziehen?
Die Gefahr gab es auch 1989. Der große Unterschied war, dass der Maidan schon über Monate hinweg stand. Es gab immer wieder Auseinandersetzungen. In DDR gab es nicht diese durchgehenden Demonstrationen. Nur Montags kamen die Menschen zusammen und zogen durch die Straßen. Die Sicherheitskräfte wussten, dass sie sich am nächsten Tag wieder weg waren. Vielleicht war das ein Grund, nicht massive Gewalt einzusetzen. Die Sicherheitskräfte standen aber auch bereit. Kampftruppen bewaffneten sich in Betrieben. Die DDR-Regierung wusste, dass sie keinen Rückhalt mehr bei Gorbatschow hat, dass keine Hilfe aus der Sowjetunion kommen würde. Man hat natürlich Gewalt eingesetzt, indem man Leute verhaftet oder zusammengeschlagen hat, aber es gab keine Waffengewalt.
Am Anfang konnten sich auch Polizisten in der Kirche aufwärmen. Wie konnte es funktionieren, dass die Demonstranten und Polizisten gleichzeitig in der Kirche waren? Gab es Polizisten, die auf die Seite der Demonstranten gewechselt sind?
Zur letzten Frage: davon weiß ich nichts. Jedenfalls nicht in meinem Umfeld.
Es war so, dass wir unsere Kirche für beide Seiten offen hatten. Anfang Dezember kam ab und zu eine Sicherheitskraft, um sich Tee zu holen. Es gab rund um die Uhr Tee, etwas Warmes, weil es draußen eiskalt war. Das hat man durchaus genutzt. Aber nach dem 9. Dezember, nach der Auflösung des Protestlagers vor der Kirche, haben sich die Sicherheitskräfte nicht mehr getraut, um sich hinzusetzen und Tee zu trinken.
Das Wichtige waren unsere Toiletten. Ich spekuliere ein bisschen: ich nehme stark an, dass die Sicherheitskräfte wussten, dass wir seit Anfang Januar in der Kirche ein Lazarett hatten und Verletzte des Maidans behandelten. Ich nehme an, dass sie davor zurückgeschreckten, die Leute aus unserem Lazarett zu holen und zu verprügeln, um sie dann in die Wälder zu werfen, wie es in anderen Krankenhäusern der Fall war. Sie wussten, dass es eine deutsche Kirche war. Vielleicht ein entscheidender Punkt. Vielleicht wollten sie auch nicht den Ort verlieren, wo sie sich aufwärmen und auf die Toilette gehen konnten.
Wie war in der DDR die Beziehung zwischen Polizei und Volk?
Man war nie sicher, ob da einer von staatlicher Seite steht, also ein Polizist oder von der Stasi. Vor letzteren musste man Angst haben. Der Ruf der Demonstrierenden war immer: keine Gewalt. Wir wussten, dass da auch junge Leute stehen: Bereitschaftspolizei, die verpflichtet war, da zu stehen und nicht freiwillig dastand. Sie wurden nicht als Feinde gesehen. Die große Gefahr war die Stasi. Sie konnten einfach jemanden herausziehen und verhaften.
Während der „Revolution der Würde“ gab es sogenannte Tituschki – von staatlicher Seite bezahlte Schläger und Provokateure. Man wusste nicht, wo sie auftauchen, um Menschen zu schlagen. Bei den Sicherheitskräften wusste man: sie stehen Dir gegenüber.
Ich habe mich auf dem Maidan sicher gefühlt. Da gab es eine bemerkenswerte Ordnung.
Sie haben gesagt, dass die Freiheit und Frieden mit Waffen beschützt werden muss. Haben Sie das nach der ukrainischen Revolution gesagt?
Das war im November 2014, nach der Revolution, und nach dem Überfall Russlands auf die Krim und den Donbass, und in Vorbereitung eines Gottesdiensts. Deutschland entschied, im Januar 2015 einen Gottesdienst aus Kiew, aus St. Katarina live zu übertragen. Im Vorfeld gab es verschiedene Interviews. Und in einem davon habe ich diesen Satz tatsächlich gesagt: Niemand hört’s gerne, niemand sagt’s gerne, aber manchmal muss Freiheit und Frieden auch verteidigt werden, leider manchmal auch mit Waffengewalt. Ich stehe heute noch dazu. Es ist das gute Recht jedes Einzelnen, der überfallen wird, sich auch zur Wehr zu setzen. Dieser Satz stieß allerdings in meiner deutschen Kirche auf ziemlichen Widerstand.
Ihre Meinung über die Revolution in Belarus, die grade stattfindet.
Ich verfolge die Revolution ganz stark über Facebook. Die Proteste haben ihre Berechtigung. Die Wahlen wurden massiv gefälscht. Nach meinem Empfinden hat Lukaschenko die Wahlen verloren. Ich hoffe, dass die Demonstranten ihren Protest friedlich zum Ausdruck bringen können und nicht weiter geschlagen werden. Die Gefahr ist, dass Lukaschenko sich an seine Macht klammert. Das wird aber nur funktionieren, wenn er Gewalt anwendet, was er grade tut.
Haben Sie 1989/1990 gewusst, dass der Sowjetunion keine Erneuerung, sondern Zerfall bevorsteht?
Im Herbst 1989 hatte ich das noch nicht auf dem Schirm. Vielleicht deshalb, weil ich mit der Sowjetunion groß geworden bin. Ich wusste nicht, dass die balischen Staaten einmal eigenständige Staaten waren. Das wurde uns im Geschichtsunterricht nicht gesagt. Klar war, dass in Polen, wo es bereits seit 1980 die Solidarność-Bewegung gab, eine Loslösung aus Warschauer Pakt gewünscht wurde.
Wir wurden in der DDR in unserem Geschichtsunterricht manipuliert. Das Geschichtsbild wurde durch Auslassungen gefestigt. Zum Beispiel wurde uns immer erzählt, Hitlers hat Polen überfallen, aber dass die Sowjetunion am 17. September von der anderen Seite kam, das sagte bei uns niemand. Ich wusste es bis 1995 nicht, bis ich damals nach Belarus kam.
Wie hat man sich überhaupt informiert? Wie organisierten sich die Menschen? Wie war das Narrativ: kam es aus dem Fernsehen oder aus der Schule?
Die großen Kommunikationspunkte waren die Kirchen und Kirchengemeinden. Die Informationen wurden mündlich weitergegeben. Es gab kleine Plakate. Es gab noch keine Kopierer. In der DDR gab es Korrespondenten aus dem Westen, die haben natürlich nicht im Ostfernsehen, sondern im Westfernsehen berichtet.
Könnte man einer Person vertrauen, nur weil man in der Kirche war?
Ab Oktober war die Bewegung bereits so groß, dass man wusste, dass es genug Menschen gibt, die genauso denken, wie man selber. Es gab in der Kirche hunderte Menschen und man hatte keine Möglichkeit, misstrauisch zu sein.
Ein Blick in die Zukunft. Wie geht es in Europa weiter? Wie geht es in der Ukraine weiter?
Ich kann nur hoffen, dass die demokratischen Kräfte die Oberhand behalten und die teilenden Kräfte schwächer werden. Was wir brauchen, ist ein starkes, vereintes Europa, das mit einer Stimme spricht.
Gibt es etwas, was Deutschland an der „Revolution der Würde“ nicht verstanden hat?
Die überwiegende Mehrzahl der Menschen weiß, was passiert ist. Leider sind aber die klugen und einsichtigen Leute häufig zurückhaltend und leiser, und die dummen, rechten Kräfte, die sich nicht in die Zusammenhänge eindenken können, die einfache Lösungen und Antworten suchen, schreien immer schnell und laut. Deswegen hat man den Eindruck, dass sie in der Mehrheit sind, was sie aber nicht sind.