Im Interview mit dem Schriftsteller Wolodymyr Danylenko haben wir erfahren, wie die Ereignisse in Kyjiw die Zivilcourage von Einwohnern anderer Städte, unter anderem in Zhytomyr, beeinflusste, sowie etwas über den Zusammenhang zwischen Kunst und Revolution und über die Bedeutung einer unabhängigen Presse.
Gab es größere oder lokale Aktionen vor dem Hungerstreik der Studenten?
Zuerst wollten wir wissen, ob und welche Aktionen es vor dem studentischen Hungerstreik gab und wie zahlreich sie waren und in welchen ukrainischen Städten sie stattfanden. Wolodymyr Danylenko erzählte über das Musikfestival „Tscherwona Ruta“, das 1989 in Czernowitz stattgefunden hatte. Er wies auch darauf hin, dass damals ähnliche Veranstaltungen schon politisch geprägt waren und einen Geist des Wandels trugen, der nach und nach das ganze Land ergriff. Der Austritt der Ukraine aus der Sowjetunion war praktisch unvermeidlich. Die Gesellschaft war bereit dazu, und diejenigen, die einen besonders aktiven Teil daran hatten, waren Studenten und Intellektuelle, die ihre Aktivität verstärkten. Das betraf auch politische Kreise: die Dezentralisierung verstärkte sich. Dabei spielte die damalige Staatsmacht eine wichtige Rolle, indem sie einen friedlichen Zusammenbruch der Sowjetunion faktisch ermöglichte.
Berichteten 1989/90 Massenmedien über Ideen der Bildung von unabhängigen Staaten oder Autonomien innerhalb der UdSSR?
Natürlich wurden die sowjetischen Massenmedien kontrolliert und standen oft unter der strengen Zensur der Staatsmacht, Doch gerade die Abwesenheit eines autoritären Führers in der UdSSR Ende 1980er Jahre ermöglichte die Entwicklung von Protestbewegungen, die mit der Zeit immer stärker wurden und umfangreiche Veränderungen forderten, die bisher unmöglich erschienen: der Zusammenbruch der Union, die über ein halbes Jahrhundert lang existierte. Auf diese Weise spielte laut Wolodymyr Danylenko gerade Michail Gorbatschow eine wesentliche Rolle bei dem gewaltfreien Abbau der UdSSR.
War der Hungerstreik unerwartet oder spontan? Nahmen Sie daran teil?
1989 arbeitete Wolodymyr Danylenko bei einer Zeitung. Zusammen mit Gleichgesinnten gründete er in Zhytomyr einen Zweig der Volksbewegung „Narodnyi Ruch“, der ihm zufolge beabsichtigte, die Ideologie des Sowjetsystems zu überwinden und die Ideen der ukrainischen Unabhängigkeit zu verbreiten. Im Januar beteiligten sie sich auch an einer Menschenkette.
Neben dem bürgerlichen Engagement in seiner Heimatstadt besuchte Danylenko auch Kyjiw, wo er die Proteste selbst erlebte und eine Reportage über die Ereignisse auf dem Maidan verfasste. Damals versuchte ein Teil der Journalisten hauptsächlich über die Nachteile in der UdSSR zu berichten. In der Reportage von Danylenko wurden gewisse Details besonders wichtig: welche Losungen gab es, welche Menschen waren in Kyjiw beteiligt, wie wurde den Protestierenden geholfen… Aus Sicht einer Person, die mit Worten arbeitet, konnte (und sollte!) man diese historischen Ereignisse über eine andere Sprache beschreiben und nicht durch die Sprache, mit der man gewöhnlich arbeitete. Es gab nämlich eine besondere Ebene in der Pressesprache für die Darstellung von Protesten, doch es schien bereits unmöglich, sie für die sowjetische Propaganda zu nutzen. Man musste andere Wörter suchen und gebrauchen, die in einer anderen Gesellschaft wahrgenommen werden konnten, oder zumindest in einer Gesellschaft, die auf dem Weg der Veränderungen war. Damals, Ende der 1980er Jahre, erschien die unkonventionelle Zeitschrift „Zhytniy Markt“. Die Freiheit, die die Gesellschaft ergriff, war so berauschend, dass selbst die Angst verschwinden konnte, um seine Gedanken frei zu äußern. Deshalb zeigte die neue Presse die Stimmung, die unter den Leuten herrschte. Sie erlaubte sich eine scharfe Kritik und Satire. Das waren die Keime einer liberalen Presse, die in der Ukraine nur unter der Bedingung eines abwesenden Terrors gegenüber Journalisten wachsen konnte.
War in Zhytomyr von den Ereignissen auf dem Maidan in Kyjiw zu hören?
In Zhytomyr konnte man natürlich die Kyjiwer Ereignisse nachempfinden. Die unabhängige Zeitung von Jakiw Zaiko „Die Bürgerstimme“ berichtete zum Beispiel darüber. Neben der Betrachtung der Ereignisse in Kyjiw aus der Nachbarschaft kamen viele Einwohner von Zhytomyr zu lokalen Versammlungen, nahmen an verschiedenen Aktionen teil und schrieben in den Zeitungen natürlich viel über die Ereignisse, Stimmungen und gesellschaftlichen Bewegungen.
Gab es künstlerische Veranstaltungen, die mit der Revolution auf Granit auf die eine oder andere Weise verbunden waren? Wie war die Beziehung zwischen Kunst und Politik Ende der 1980er Jahre?
In diesem Zusammenhang bemerkte Wolodymyr Danylenko, dass das größte künstlerische Projekt, das mit der Protestbewegung verbunden war, das Rockfestival „Tscherwona Ruta“ war. Rock ist eine Musik des Protests und richtet sich gleichzeitig gegen Gewalt. Das Festival bekräftigte diese Idee.
Später wurde von der Gebietsabteilung des ukrainischen Journalistenverbands in Zhytomyr die Zeitschrift „Natürlich“ („Awschesch“) gegründet, unter anderem von Wolodymyr Danylenko. In dieser Zeitschrift wurden Werke der „erschossenen Wiedergeburt“ der ukrainischen Kultur Ende der 1930er Jahre, sowie Werke aus der Diaspora und Werke der Avantgarde veröffentlicht. Die Rückkehr verbotener und vergessener Künstler ins öffentliche Bewusstsein spielte eine entscheidende Rolle während der Revolutionsereignisse, denn in der Vergangenheit kann man Worte finden, die der Gegenwart eine Richtung geben. Und die einst erlebten und wiederbelebten Erfahrungen können Inspiration sein. Au0erdem zeigte es dem Publikum eine andere Art von Kunst, frei von Propaganda und dem sozialistischen Realismus. Informationen wurden überhaupt vorwiegend mündlich oder in Papierform verbreitet. Die Untergrundverlage machten den offiziellen Medien und dem vom Staat kontrollierten Fernsehen starke Konkurrenz. Das Interesse an neuer Kunst, die neue Ideen vermittelt, wuchs stark, insbesondere unter der Jugend, die laut Wolodymyr Danylenko dank ihrer Aktivität oft aus der Avantgarde der Gesellschaft kam.
Teilen Sie die Meinung, Kunst sei weniger bedeutend für das politische und gesellschaftliche Leben des Landes als sie es noch vor 30 Jahren war?
Wolodymyr Danylenko äußerte die Meinung, dass Kunst früher als eine neue Wahrheit empfunden wurde, inbesondere in den „turbulenten Zeiten“. Die Rolle der Kunst ist heute hingegen nicht so eindeutig bei der Schilderung des gesellschaftlich-politischen Lebens im Land, denn es gibt immer mehr Kunst für Kunst, ohne zweckgebundene Inhalte. Wolodymyr Danylenko meinte, es gibt zu jeder Zeit Kunst, die zum Protest aufruft, und Kunst nur für sich selbst, ohne ideologische Ziele. In der Sowjetunion galt schon in ihren letzten Jahren das Prinzip „Meinungsfreiheit statt wirtschaftlicher Freiheit“, aber gerade diese Meinungsfreiheit wurde für die Revolution und für den weiteren Zusammenbruch der UdSSR entscheidend.
Anschließend beschrieb Wolodymyr Danylenko seine Emotionen von damals als Euphorie und als Gefühl der absoluten Freiheit. Nach seinen Worten spiegelt der Ausdruck “Die Mauern des Gefängnisses fallen” die Stimmung wieder, die im Herbst 1990 herrschte.