Weder Mauer, noch Granit hielten Stand

Daniyo Poliluev-Schmidt

“Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen.” ― Carl Edward Sagan

Wie oft machen wir uns darüber Gedanken, wer die Welt, in der wir heute leben, zu welchem Preis gebaut und gestaltet hat? Ich präzisiere: es geht nicht um die Welt, die unsere Eltern geschaffen haben, um uns zu schützen. Dieser Kokon, der uns bis zu unserer vollen Reife umgab, bewahrte uns davor, sich der grausamen Realität zu stellen. Diese Barriere schützte uns sehr lange vor den stürmischen Ereignissen der 1990er Jahre. Deshalb spreche ich von einer Welt der Erwachsenen, die von genialen Menschen und herausragenden Taten gestaltet wurde. Die meisten von uns, die in den 1990ern geboren wurden, kennen diese turbulenten Zeiten nicht, weil unsere Eltern uns davor behüteten. Wir 1990er kennen Unabhängigkeit, Menschenrechte, Freiheit, unbegrenzte Möglichkeiten und Demokratie. Aber wir haben nicht gelernt, was eine perfekte Demokratie ist und doch gibt ihre Anwesenheit Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Aber wem haben wir all diese Privilegien hier und heute zu verdanken?

Stellen Sie sich vor, sie sind 24 Jahre alt, aber leben 1989 im Ostblock. Zum Beispiel in Ostberlin. Sie sind in einer Zeit mit einer beschränkt richtigen Wahrheit und eines ständigen Defizits aufgewachten. Tatsächlich bestand die Wahrheit aus alternativen Fakten und das Defizit rührte von wirtschaftlicher Rückständigkeit. Deshalb bitten Sie ihre Verwandten aus dem Westen, Zeitungen, Zeitschriften oder modische, coole Jeans mitzubringen. All das gibt es in Westberlin hinter den Eisernen Vorhang. Sie fragen ihre Verwandten, ob sie auch nicht beobachtet wurden, als sie ihre Wohnung verließen. Sie sind neugierig und begierig zu erfahren, was hinter diesem Vorhang ist. Manchmal hören Sie mit Ihren Freunden verbotene Musik oder treffen sich an geheimen Orten, wo es ein umgebautes Radio gibt, um Sendungen von verbotenen, aber unabhängigen Medien zu hören. Diese Informationen werden aus München oder Westberlin ausgestrahlt. Aus dem zweiten Deutschland. Sie sind in der DDR nicht erlaubt. Seit einem Jahr versuchen Sie, in der Tschechoslowakei Urlaub zu machen, aber Ihrem Antrag wurde nicht stattgegeben – abgelehnt. Mehrfach versuchten Sie herauszufinden, weshalb, aber erfolglos. Vielleicht hat Sie einer Ihrer Nachbarn bei der STASI angeschwärzt und sich über Ihr „verdächtiges Verhalten“ beschwert. Ihr Kopf dreht sich nur noch um die Frage: wie all dem entrinnen? Wie in den Westen kommen, wo es alles gibt… Zumindest glauben Sie, dass es „dort“ viel besser ist. Sie sahen in all den Hochglanzzeitschriften schicke und gutgekleidete Leute in ihrem Alter. Sie scheinen glücklich und lächelten. Sie reisen durch die „verdorbenen“ Länder des Westens. Sie wissen durch Briefe von Freunden aus dem sowjetischen Kyjiw, dass man nur überlebt, wenn man sich stunden-, ja tagelang in Warteschlangen einreiht, um das Lebenswichtigste zu bekommen. Kurz: es geht auch noch schlechter als in Ostberlin. Aber wie kamen die Briefe überhaupt nach Berlin, wenn alles kontrolliert und zensiert wird? Nun, Sie haben gelernt, wie man solche Briefe in einer Art schreibt und liest, um zwischen den Zeilen den Schmerz und die Probleme zu verstecken. Aber eines Morgens wachen Sie auf und spüren den „Wind of Change“. Sie gehen mit Freunden auf eine Kundgebung. Sie wollen, dass sich etwas so schnell wie möglich ändert. Sie fordern, dass die Grenzen zur Bundesrepublik geöffnet werden. Und plötzlich, am 9. November 1989, fällt die Berliner Mauer! Ein symbolischer Durchbruch des Eisernen Vorhangs. Es war erst der Anfang eines Tsunami, der die Küsten der Sowjetunion bedrohte. Nun stellen Sie sich Ihre fiktiven Brieffreunde im fernen sowjetischen Kyjiw vor, wo die Kommunisten weit stärker sind. Jeder Protest wird dort im Keim erstickt. Ukrainisch wird als Sprache unterdrückt, es gab ethnische Säuberungen der ukrainischen Eliten. Lügen dominieren die Medien, dass ein wahres Informationsvakuum herrscht. Die Gehirne vieler Zivilisten sind durch all die Propaganda aufgeweicht. Sehr beängstigend. Wer zumindest noch ein analysieren kann, glaubt den Worten der Kommunisten nicht mehr. Gerüchte gelten als scheinbar zuverlässige Informationen. Andere Quellen sind „Stimme Amerika“ und „Radio Liberty“, die man nachts mit kleinen, selbstgebauten Radios hören kann. Was in sowjetischen Radios, Zeitungen und dem Fernsehen behauptet wird, widerspricht allzu oft der Realität. Ihre Freunde aus Kyjiw vergleichen immer öfter die Realität mit dem Gesagten und verstehen, dass es nicht stimmt. Sie beginnen zu zweifeln. Die Propaganda wirkt. Die Gehirnwäsche ließ selbst intelligente Menschen an ihren eigenen Gedanken zweifeln. Ihnen scheint, dass es dort, im Westen, besser wird. Sie versuchen zu emigrieren, was aber scheitert. Sie wollen aus diesem ewigen Sumpf entfliehen und haben doch keine andere Wahl. Junge Menschen sind meist aufgeschlossen für Neues und bereit, für ihre Überzeugungen und Ideale zu kämpfen. Daher gingen sie auf den Granit, um zu hungern, selbst bis zum Tod. Es gab Leute, die sich für die Ukraine anzündeten, andere starben hinter Gittern. Immer in der Hoffnung an Besserung. Aber im fernen Berlin gelang es den Menschen, ihre Freiheit zu erlangen. Sie rissen diese unsägliche Mauer ein. In Kyjiw folgen Massen jungen Propheten über die See einer Revolution in eine Fata Morgana. Und sehr bald werden die Ukrainer ihre geliebte Unabhängigkeit erhalten…

Nachdem Sie sich all das vorgestellt haben, versuchen Sie zu spüren, wie unbeschwert und einfach es für uns 1990er ist, all diese Privilegien eines freien, souveränen und demokratischen Staats zu haben – unbegrenzte Möglichkeiten, Reisefreiheit und offene Grenzen. Nur wenige Menschen fragen sich, woher das alles kommt. Unsere heutige Aufgabe besteht darin, die wir all diese Rechte genießen, sich häufiger mit der Geschichte zu beschäftigen, sie zu pflegen und über die schmerzhaften Wunden der Vergangenheit nachzudenken. Wir sollten auch stolz auf die Leistungen der Kämpfer für Unabhängigkeit und Freiheit sein. Jedes Mal, wenn wir unabhängige Medien konsumieren, ein geliebtes Buch lesen oder einfach nur in der Welt herumreisen, sollten wir für die Ereignisse von 1989/90 dankbar sein. Die öffentliche Diskussion und Berichterstattung über den Kampf in unserer jüngeren Geschichte helfen bei der Entwicklung der Zivilgesellschaft. Das Verständnis der Vergangenheit kann den Rückfall in totalitäre Regime in neuem Gewand verhindern.

Sprechen Sie, fragen Sie, suchen Sie, denn die nackte Wahrheit liegt in der Vergangenheit. Wir halten die Geschichte lebendig, denn ohne Kenntnis der Vergangenheit gibt es keine leuchtende Gegenwart und Zukunft.