Ich plane eine Reise. Eine der wenigen Touren, die man sich in der Quarantäne noch leisten kann. Eine Reise in die deutsche Vergangenheit. Sehr weit will ich nicht reisen. Nicht in das Grauen der Weltkriege. Die Weimarer Republik? Da würde ich wohl kein Wort verstehen. Es soll einen Moment geben, an dem man gerne dabei sein wollte. Ohne lange nachzudenken wähle ich den 9. November 1989. Der Tag ist mir vertraut, ich habe ihn schon so vielmals erlebt, als ob ich schon damals und da leben würde.
Ich schließe die Augen, ich drücke die Hände an die Ohren und höre den Wind. Den Wind, der mich in die Vergangenheit bringt. Wie ein Zug. Erster Halt: 2019 – Respektrente. Ausstieg rechts. 2018 – Heißzeit. 2017 – Jamaika-Aus. Umstieg zu Ehe für alle und #Me Too. 2016… Ich fahre an postfaktisch vorbei, wo es keinen interessiert hatte, was wirklich passiert ist und was nicht. Ich denke an die Zeit während der Revolution der Würde, als ich vor dem Bildschirm saß und zu verstehen versuchte, was wahr war und was nicht. Ist es fake? Ist es fake, dass es fake ist? Ist es fake, dass es fake ist, dass es fake ist? Man konnte den Nachrichten aus dem Fernsehen nicht glauben. Wir haben uns damals Hromadske angesehen, den einzigen ukrainischen Fernsehsender, der unabhängig von den Machthabern war, da er von den Zuschauer finanziert wurde und nichts von den Oligarchen.
2015 – Flüchtlinge. Für mich wäre es 2014. Mit einem Präfix: binnen-. Es war der Moment, an dem ich endlich die psychische Lähmung überwinden konnte und zum Bahnhof fuhr, um irgendwie Menschen zu helfen, um irgendwas machen zu können, endlich etwas tun, was Sinn macht und nicht nur Angst und Verzweiflung fühlen. Wo kommen Sie her? Wohin wollen Sie jetzt? Tee? Mit Zucker? Wie viel?
2014 Lichtgrenze. Ich erinnere mich daran! Es war in den Nachrichten. So schön! Ich habe damals ein Gedicht geschrieben. Auf Ukrainisch. War aber wieder nicht über Deutschland, obwohl es „25 Jahre Mauerfall“ hieß. Warum denke ich immer wieder nicht an Deutschland, sondern…
2013 – GroKo, 2012 – Rettungsschirm, 2011 – Stresstest. Der Zug beschleunigt sich: Wutbürger, Abwrackprämie, Finanzkrise, Klimakatastrophe, Fanmeile, Bundeskanz-lerin, Hartz-IV, das alte Europa, Teuro, der 11. September, Schwarzgeldaffäre.
Ein rascher Halt, ich falle fast. 1999 – Millennium. Ich bin in den 90er und ich verstehe immer weniger. Ich verstehe nichts, bis es mich nach 1991 wirft. Besserwessi. Eine Kontamination, ich mag Kontaminationen. Ein Wessi, der besser weiß, was ein Ossi machen muss. Ich denke immer noch an die Ukraine, an die Verwandten und Bekannten von den Ukrainern, die aus Russland besser gesehen haben, was bei uns 2014 lief. Nächster Halt: 1990 – die neuen Bundesländer. Ich sehe schon, dass 1989 auf der Straße Reisefreiheit halten soll. Ich denke schon an die Visafreiheit, das ukrainische Wort des Jahres 2017 (Bezvis). Ich reiße mich zusammen vor der letzten Kurzstrecke, die ich legen muss, bis ich endlich meinen 9. November sehen werde.
Der Zug steht. Und steht. Und ich warte. Und warte. Und. Ich öffne die Augen. 1990. До московського проспекту, а далі в депо, höre ich. (Bis zum Moskauer Prospekt und weiter geht’s in den Fahrzeugpark). Scheiße, denke ich. Aber logisch. Ich habe überhaupt nicht an Deutschland gedacht, warum dürfte ich da landen? Alle aussteigen! Okay, okay. Warum ist es hier so still? Kein Wort. Ah so, 1990 gab es in der Ukraine noch kein Wort des Jahres. 2013 wurde es zum ersten Mal gewählt. Euromaidan war es. Was war aber in der Ukraine vor dem Euromaidan? Ich erinnere mich an ein Meme über die ukrainische Politik in Zyklen: ein guter Präsident, ein schlechter Präsident, Revolution, ein guter Präsident, ein schlechter Präsident, Revolution… Drei Revolutionen soll es geben. Die Revolution der Würde, die Orangene Revolution und die Revolution auf Granit. Wie war diese erste? Ich kann mich nicht daran erinnern, ich bin 1990 geboren. Sie war friedlich. Sie war studentisch.
Ich fange an zu gehen. Ich sehe Menschen, junge Gesichter, ich sehe eine Menschenkette zwischen Lwiw und Kyjiw und verstehe nicht, wie man sie in der Vor-Facebook-Eiszeit überhaupt organisieren konnte? Ich sehe Zelte, ich sehe Plakate: „Es ist besser zu sterben, als in der Sowjetunion zu leben“, „ich bin bereit, das Leben auf den Altar der freien Ukraine zu legen“, „239 – Schande“ (die Zahl kommt von der parlamentarischen Mehrheit, die aus Kommis bestand). Ich sehe eine Zeitung und versuche zu verstehen, was für ein Tag ist es heute. Ich frage eine Frau: „Der Wievielte ist heute?“ – „Дев’яте“ (Der neunte) – „November?“ – „Oktober. 1990“, sagt sie gewundert, umarmt mich dann und fügt hinzu: ходімо! (Lass uns gehen!)
Ich komme mit. Im Fernsehen zeigt man den runden Tisch.
„Mama,“, denke ich, „wie werde ich nach Hause kommen?“ „Wo bist du“, höre ich ihre Stimme. „In 1990“, sage ich. „Wo genau?“ „Ich weiß nicht“, sage ich. „Was siehst du?“
„Einen runden Tisch. Im Fernsehen“. „Wer ist da?“ „Wer ist da?“, frage ich die Frau, mit der ich zusammensitze. „Krawtschuk“, sagt sie. „Krawtschuk“, wiederhole ich. „So ein Arschloch!“, sagt die Frau. „Er hat versprochen, dass der runde Tisch ohne Zensur gezeigt wird!“ „Mama!“, rufe ich, „wie komme ich nach Hause?“ Ihre Stimme ist weit entfernt, ich höre sie mit Störungen, als ob ich hier noch früher, vor 20 Jahren wäre und versucht hätte, mir die Deutsche Welle anzuhören. Ich höre nur, wie sie das Ende meines Namens ausspricht. Ein ukrainisches Diminutiv, ein -chen: „…tschka!“
Wie komme ich nach Hause? Wie komme ich nach 2020? Da kommt eine Stimme von oben: „Halte dich an das Wort fest!“ – „An welches Wort?!“ – „Sei kreativ!“, sagt die Stimme von oben. Ich stehe da und weiß nicht, was ich tun muss. Der Wind verstärkt sich. Er wirbelt sich. Er zieht an mir und wirft mich in die Zukunft. „Wenn du nach Hause willst, musst du ein Wort des Jahres wählen“, kommt wieder die bekannte Stimme. „Ich weiß es nicht!“, weine ich. „Nur ein Wort für die 90er“. – „Ich kann nicht!“ „Sag etwas. Was hast du als letztes gehört?“ „Tschka“, sage ich. „Und Krawtschuk“.
…
„Ich will Krawtschutschka für das ukrainische Wort des Jahres 1990 nachträglich nominieren. Dies ist eine Sackkarre, die bis zu 100 Kilogramm Last tragen konnte, in den 90er Jahren populär wurde und meistens von den Kleinhändlern oder Datschniks (Inhabern von Datschas) gebraucht wurde und nach dem Namen von Leonid Krawtschuk genannt wurde, da sie zu seiner Regierungszeit boomte“, – höre ich mich selbst reden. Ich wache auf. Dieser Satz ist der einzige, an den ich mich erinnern kann. Ich gehe googeln. „Am 3. September 1993 hat er die Masandra Vereinbarungen unterschrieben, die sich auf das weitere Schicksal der Platzierung der russischen Flotte auf dem Territorium der Ukraine und der Atomwaffe bezogen haben“, lese ich in der ukrainischen Wikipedia. 1994 hat er eigenständig die Entscheidung getroffen, die Vereinbarung mit den USA und Russland zu unterschreiben und die Atomwaffen an Russland abzugeben. Im November 2004 wurde ihm der Titel Doctor honoris causa der Kyjiwer Mohyla Akademie entzogen. Wegen seiner Position zur Orangenen Revolution.
„Selenskyjverlieh Krawtschuk den Orden von Jaroslaw dem Weisen“, lese ich auf Facebook.
„So ein…“, erinnere ich mich an die Stimme.