Interview mit Christian Chemnitzer

Welche Rolle haben Sie während der Wende gespielt?

Eine sehr besondere Rolle habe ich damals nicht gespielt. Letzten Endes hat die Gesellschaft die Änderungen herbeigeführt. Wir haben im Oktober 1989 mit Demonstrationen begonnen. Anfangs waren es einige hundert, dann einige tausend Menschen und es wurden immer mehr. Zu Beginn gab es noch viele Verhaftungen, was mich auch getroffen hatte.

Wir waren keine organisierte Opposition. Wir sind auf die Straße gegangen, um uns zu wehren und um unsere Meinung zu äußern. Das sahen viele Menschen an den Fenstern und merkten, dass dies möglich ist. Und gerade die Verhaftungen führten dazu, dass noch mehr Leute auf die Straßen gingen.

Sie waren selbst im Gefängnis, weil Sie demonstrierten?

Am 8. Oktober wurde ich nachmittags in Dresden verhaftet. Mehrere 100 Leute wurden zusammengetrieben und in Armee-LKWs verladen. Wir wurden dann nach Bautzen ins Gefängnis gebracht. Das sprach sich herum, so dass am Abend die zehnfache Anzahl an Menschen demonstrierten. Es war so ein Effekt des gegenseitigen Anstoßes. Wir haben den anderen Mut gemacht, dass man auf die Straße gehen kann und dafür nicht erschossen wird.

Dabei war das nicht selbstverständlich, doch diesmal war die SED-Führung feige. Sie hat sich immer auf die Sowjets verlassen. Frühere Aufstände wurden von sowjetwischen Soldaten niedergeschlagen. Doch wir waren uns relativ sicher, dass dies nicht passieren wird, denn Gorbatschow hatte zugesagt, nicht einzugreifen. Das war ein gewisser Rückhalt, den wir hatten, wofür wir heute noch gewissermaßen dankbar sind.

Woran haben Sie im Gefängnis gedacht?

Ach, an ganz viele Dinge. Was mich persönlich störte, war der Vorwurf, dass wir eine „kontrarevolutionäre Zusammenrottung“ seien. Das hätte uns ohne Wende 10 Jahre Gefängnis eingebracht. In Bautzen saßen wir in einem großen Raum, dem Kinosaal des Gefängnisses zusammen. Neben mir saß ein Schauspieler, der immer sagte, dass wir nicht aufgeben sollen und wieder herauskommen. Damals war ja noch nicht sicher, ob wir nicht vielleicht doch 10 Jahre ins Gefängnis kommen. Wir waren zudem von jeder Information von draußen abgeschnitten und wussten nicht, was im Land passiert. Aber nach ein paar Tagen merkten wir, dass sich die Repressionen wesentlich gelockert hatten. Zuvor wollte man uns noch mit Schlaf- und Essensentzug gefügig machen. Wir sollten unsere Straftaten zugeben, damit die Haftbefehle ausgestellt werden konnten, um die Strafe zu legitimieren.

Ich habe das nicht gemacht, denn ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Dafür musste ich immer wieder in den Keller, wo ich von Stasi-Offizieren verhört wurde. Der Vorwurf war, dass ich an einer staatszersetzenden Demonstration teilgenommen hätte. Meine Antwort war immer, dass ich rein zufällig dort war und von keiner Demonstration wusste. Dabei hatten wir kaum Gelegenheit zum Nachdenken, denn ohne Schlaf und Essen hört auch der Kopf zu arbeiten auf. Man will einfach nur noch schlafen, essen, trinken…

Am dritten oder vierten Tag entließ man mich wieder, weil ich nichts zugegeben hatte. Aber bevor ich etwas zu Essen besorgte oder Schlaf nachholte, ging ich in eine Polyklinik, um mich untersuchen zu lassen, denn ich hatte überall Hämatome. Das ließ ich dort in der Krankenakte als Beweis aufnehmen.

Was bedeutet die Mauer für Sie persönlich und für die heutige Jungend?

Die Mauer war immer ein Symbol für Abgrenzung. Man kennt das zwischen Nachbarn und zwischen Ländern, insbesondere aus der DDR, um sich selbst einzusperren.

Die heutige Jugend kann sich das gar nicht mehr vorstellen. Die Freiheiten sind für sie selbstverständlich geworden. Deshalb würdigen sie auch nicht die Möglichkeiten, wie internationale Praktika zu machen oder visafrei durch Europa zu reisen. Sie haben keine Vorstellung mehr, wie es ist, wenn man nicht außer Landes darf. Die Erinnerung daran verblasst. Vielleicht gibt diese Pandemie gerade wieder ein Gefühl dafür, was es heißt, nicht reisen zu können.

Darf man sich über die Ereignisse von 1989/90 lustig machen?

Unbedingt! Was uns vielleicht etwas verloren ging, ist der politische Witz. In der DDR gab es so viele Witze. Dabei ist Lachen unglaublich befreiend. Wer nicht mehr lachen kann, dem geht etwas Wichtiges verloren. Und zum Lachen gehört einfach der Witz. Dabei könnte ich nicht lachen, wenn jemand über Konzentrationslager oder Judenvergasung Witze macht, aber über die Wende, ganz sicher.

Welche Musik hat man damals in der DDR gehört? Nur einheimische Musik oder auch solche aus dem Westen oder aus der Sowjetunion?

Also sowjetische Musik wurde gar nicht gehört. Aber in der DDR gab es extremen Nachholbedarf in Bezug auf Kultur. Nach der Wende spielten DDR-Produkte keine Rolle. Man wollte alles aufsaugen, was aus dem Westen kam. Die Öffnung des Landes ging dann auch extrem schnell. Bereits im November 1989 war die Grenze nach Westdeutschland offen und die gesamte Konsumkultur aus dem Westen war gefragt. Leider verloren viele Ostdeutsche Künstler damit auch ihre Existenz, denn niemand wollte sie hören. Das hat sich im Laufe der Zeit wieder geändert. Heute hören wieder mehr Leute die damalige Musik aus der DDR.

Es heißt, dass Dresden anders als der Rest der DDR war, weil man wegen der Lage in einer Talsohle kein Westfernsehen empfangen konnte?

Zum einen: Fernsehen heißt ja eigentlich nicht selber zu leben, sondern jemandem beim Leben zuzusehen. Wer keinen Fernseher hat, lebt intensiver. Hier in Dresden hatten wir in meinem Umfeld zu DDR-Zeiten die Tradition, in Kneipen politisch zu diskutieren. Aber in Gegenden, wo Westfernsehen empfangen wurde, schauten die Leute auch. Wir waren in Dresden sehr politisch und vielleicht kritischer gegenüber dem, was über die Vorteile des Westens gesagt wurde.