Interview mit Oles Doniy

Wie hat Ihrer Meinung nach die studentische „Revolution auf Granit“ von 1990 die heutige Ukraine verändert und gestaltet? Wie war der Einfluss dieser ersten Revolution?

Vielen Dank für Ihr Interesse an der studentischen „Revolution auf Granit“ von 1990 und ihrer Erinnerung im Kontext der Revolutionen in Europa. Solche Revolutionen gab es auch in anderen europäischen Ländern: in Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei oder in den ehemaligen Baltischen Sowjetrepubliken. Damals fühlten wir uns auch als Teil dieser Revolutionen. Kürzlich hat jemand in der ukrainischen Wikipedia den Namen “Studentische Revolution auf Granit” einfach in “Revolution” geändert. Studenten waren die einzige Triebfeder jener Revolution, weshalb dieser Unterschied so wichtig ist. Das war Einzigartig in der ukrainischen Geschichte, denn nur Studenten machten die Revolution, selbständig und ohne fremde Hilfe. Im Gegensatz zur „Orangenen Revolution“ und der „Revolution der Würde“, wo Studenten auch auf den Barrikaden waren, entschieden und organisierten sie bei der „Revolution auf Granit“. Bei der studentischen „Revolution auf Granit“ waren ausschließlich Studenten Organisatoren und führende Köpfe, niemand sonst hatte Zugang dazu. Die Jugendlichen an den Hochschulen und Universitäten brachen ihr Studium ab – das ist ein außergewöhnliches Ereignis in der Ukraine. Das bleibt bis heute ein einzigartiger Moment der Einheit und der Solidarität. Ich hätte gern den Tag der Unabhängigkeit am 1. Dezember und nicht am 24. August. Denn am 1. Dezember stimmten die Bürger in der Ukraine für ihre “Unabhängigkeit” und nicht 450 Abgeordnete (darunter 380 Kommunisten), die sich von Angst und nicht von ihrem Gewissen leiten ließen. In einigen Jahrzehnten wird man vielleicht sagen, dass meine Großmutter oder Urgroßmutter für die Unabhängigkeit stimmte. Dieses Gefühl von Einheit war eigentlich während der studentischen „Revolution auf Granit“ von Bedeutung. Deshalb habe ich mehrmals wiederholt, dass Studenten Teil der Patriotischen Bewegung waren. Die Studenten waren für die Unabhängigkeit. Die ersten Demos hatten keinen Erfolg bei den Verhandlungen mit den kommunistischen Behörden.

Erst die Studentische Revolution brachte die kommunistische Macht aus dem Gleichgewicht und zwang sie zu Verhandlungen. Das führte zum Sieg, zur Freude und etwas näher an die Unabhängigkeit. Aus diesem Grund diskutiere ich gerne mit Historikern und Politikern, die meinen, die Unabhängigkeit der Ukraine sei vom Himmel gefallen oder wäre mit der Unterzeichnung des Dokuments über den Zusammenbruch der Sowjetunion im Wald von Białowieża in Belarus gekommen. Die Ukraine kämpfte für ihre Unabhängigkeit. Daher ist dieser psychologische Moment des Sieges sehr wichtig. Die Ideen, Technologien und Neuerungen der studentischen „Revolution auf Granit“ nutze man während mehr oder weniger erfolgreichen Revolutionen und gesamtukrainischen Aktionen. Ukrainische Studenten können sehr viel mehr als eine einheitliche Kraft erreichen. In den 1990er Jahren änderte die kommunistische Partei sogar die Altersbestimmungen, damit keine jungen Menschen unter 25 ins ukrainische Parlament gewählt werden konnten.

Also, zwei Momente: Das Gefühl des Sieges und die Überzeugung, dass sich die Jugend organisieren und ihr Ziel aktiv erreichen kann.

Warum hat man die Zelte auf dem Maidan aufgestellt und nicht dort, wo es bessere Bedingungen für Zelte gibt? Warum nicht im Mariinski-Park?

Die Organisatoren hatten damals eine sehr gute Orientierung, wobei die Pläne der studentischen Organisationen geheim waren. Der eigentliche Plan wurde von mir bereits ein halbes Jahr vor der Protestaktion entwickelt. Alle zusätzlichen Anweisungen kamen nur auf Bedarf und erst eine halbe Stunde vorher. So war sich die Polizei sicher, dass die Studenten Fernsehsender übernehmen wollten, aber der Plan war, das Universitätsgebäude zu besetzen. Diese Information war streng geheim. Das war nur den Organisatoren bekannt. Das war eine streng hierarchische studentische Struktur. Es gab nur eine Einzelaktion, bei der eine Gruppe zum Betrieb „Bolschewik“ ging, aber sie wurde gestoppt, noch bevor sie dort ankam. Da heißt nicht, dass sie falsch war, sondern es wurde nicht abgestimmt. Das Zeltlager befand sich auf dem Maidan, weil man zum Ziel hatte, eine Idee zu propagieren. Man kann nicht in einen Wald gehen und dort eine Idee propagieren. Dann propagiert man die Idee unter sich.

Was sollte die aktive Jugend heute machen, damit die nationale Befreiungsbewegung von revanchistischen Versuchen verschont bleibt und nicht sofort mit Nationalismus gleichgesetzt wird?

Eine Nation ist allgemein anerkannt, aber Nationalismus ist etwas ganz anderes. Der Nationalismus kann sowohl positive, als auch negative Folgen oder Formen haben. Nationalismus kann man nicht eindeutig als positiv bezeichnen. „Nation“ als Begriff stammt aus dem 18. Jahrhundert aus Frankreich und bedeutet Bürger. Bürger kann jeder sein, ungeachtet der Herkunft und Konfessions- oder Kulturangehörigkeit. Es gibt verschiedene Entwicklungsetappen der nationalen Idee: romantische, defensive, offensive und konkurrenzfähige. Michnowski schlug zum Beispiel einmal Ideen vor, die fremdenfeindlich waren und zum Teil Trennungsideen beinhalteten. Deshalb würden solche Ideen die Gesellschaft heute spalten. Das Wort „Nation“ eignet sich gut dafür, Begriffe wie „gesamtnational“, „gesamtukrainisch“ zu umschreiben.

Wie kann man heute zwischen „national“ und „nationalistisch“ unterscheiden? Welche Rhetorik sollte benutzt werden, um einer patriotisch-nationalen Bewegung keine negative Bedeutung beizumessen?

Sehr oft empfindet man es als negativ, wenn nur man über die nationale Idee spricht. Das erinnert sofort an Nationalismus. Schuld daran sind oft ultrarechte ukrainische nationalistische Bewegungen, die sehr oft keine anderen Meinungen akzeptieren. Ultrarechte verweigern Meinungs- und Religionsvielfalt in der Ukraine. Sie bedienen sich nationalistischer Dogmen aus den 1930er Jahren, die heute ihre Aktualität ganz verloren haben. Es gibt verschiedene Theorien, dass dieser Ansatz wichtig ist, um die Situation im Land aus dem Gleichgewicht zu bringen und die Gesellschaft zu polarisieren. Diese Politik wird durch russische Sonderdienste kontrolliert und durch eine Moskauer Agentur verstärkt. Unangenehme Assoziationen mit der ukrainischen nationalen Idee sind für den Kreml von Vorteil. Es gibt die Vermutung, dass die Agenten des Kremls seit Ende der 1990er Jahren das Hakenkreuz in bestimmte ultrarechte Organisationen brachten. Das diskreditiert die ukrainisch-nationale Befreiungsbewegung.

Damals, in den 1990er Jahren, forderten Studenten die Trennung und Unabhängigkeit von der UdSSR sowie die Anerkennung der Einwohner der Ukraine als Ukrainer. Allmähliche Veränderungen der Studentenbewegung wurden nicht nur durch die Bedürfnisse der Gesellschaft, was gut war, sondern auch durch Eingriffe von Kreml-Agenten und der kommunistischen Partei verursacht.

In den vergangenen 30 Jahren gab es nur eine Revolution in Deutschland und in der Ukraine bereits drei große und einige kleinere Aktionen. Warum war in Deutschland eine Revolution zur Entwicklung des Landes ausreichend und warum besteht in der Ukraine nach wie vor ein Problem mit der Zivilgesellschaft? Was raten Sie der jungen Generation, um eine politisch bewusste Gesellschaft aufzubauen?

Die Ukraine hat im Vergleich zu Europa Nachholbedarf auf der Ebene der Ideen. Hier kann man einen Vergleich zu Deutschland ziehen. Der Nachholbedarf der Ukraine wird im Vergleich zu anderen ehemaligen sozialistischen Ländern immer deutlicher. Die wirtschaftliche Lage ist auch nicht so gut. Bei demokratischen Institutionen und der Demokratie selbst besteht ebenfalls Nachholbedarf. Die Ukrainer beschuldigen hier gerne die Behörden, was natürlich gewisse Gründe hat. Noch zu Sowjetzeiten kämpften die Ukrainer für eine repräsentative Demokratie. Alle Wahlen der unabhängigen Ukraine waren demokratisch und mit offener Konkurrenz. Keiner der ukrainischen Präsidenten hat in den 1990er Jahren für die Unabhängigkeit der Ukraine gekämpft. Sie hatten andere Wege für ihre eigene Entwicklung im damaligen System gewählt. Außerdem klagen die Ukrainer über einen Mangel an Institutionen in der Ukraine. Die Anzahl der Institutionen können keine Qualität ersetzen. Deshalb halte ich die Idee für wichtig. Wenn man das genauer betrachtet, merkt man einen Zusammenhang zwischen Ideen und Religion. Ehemalige evangelische Länder gehören zu den erfolgreichsten in Europa, gefolgt von katholischen und die orthodoxen sind auf dem letzten Platz. Martin Luther hat 1517 die Entwicklung der Bildung, Verantwortung und Ethik der Selbstbegrenzung und die Idee von Sprache und Kultur inspiriert. Durch ihn konnte jeder die Bibel lesen. Man soll sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse einschränken. Diese Ethik fehlt uns, weil jeder glaubt, der Präsident könne einem orthodoxen Priester gleich alles dank seiner unbegrenzten Macht befehlen. Die Kirche hatte in evangelischen Ländern eine andere Position. Priester waren dort keine Führungsfiguren und man benötigte keinen Gesalbten Gottes. Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass nicht die Bürger für den Staat da sind, sondern der Staat für seine Bürger. Solange sich in der Ukraine die Weltanschauung nicht ändert, wird sich der Abstand zwischen der Ukraine und Europa nicht verringern.

Was kann unsere gewählten Eliten beeinflussen, damit sie sich für eine Verbesserung der Lebensqualität in der Ukraine einsetzen?

Politiker sind für populäre Ideen anfällig. Es ist für sie unwichtig, ob man ein rot-schwarzes oder blau-gelbes Fähnchen schwingt. Sie glauben sogar irgendwann an das, was sie tun. Die meisten Probleme lassen sich auf die gesellschaftliche Akzeptanz der Verletzung von Dogmen und Moralnormen zurückführen. Beamte klauen, weil die meisten Ukrainer das in Ordnung finden. Sie würden ja selbst stehlen, wenn sie nur könnten. Das betrifft eine Mehrzahl. Die Ukraine hat eine sehr volksnahe Regierung. Man wählt immer die Regierung, die das Volk verdient. Die Leute finden es nicht anstößig, wenn sich Politiker selbst bedienen.

Wurde die Staatsmacht Ende der 1980er Jahren aus dem Gleichgewicht gebracht und waren deshalb Veränderungen möglich? Hatten Studenten damals eigentlich die Möglichkeit, alles zum Besten zu wenden? Wurde die Chance verpasst und alles ging weiter wie bisher?

Damals waren einige Monate lang Veränderungen möglich. Eine der Forderungen der Studentischen „Revolution auf Granit“ waren Neuwahlen des Ukrainischen Parlaments, der Werchowna Rada. Diese Forderung stieß bei der national-demokratischen Partei “Ruch” auf Widerstand. Auf diese Forderung ging das damalige Parlament nicht ein. Das kann man als Verrat bezeichnen, der verhinderte, eine Basis für demokratische Mechanismen zu schaffen. Die Bedeutung dieser Forderung begriff der Leiter dieser pro-ukrainischen Partei Wjatscheslaw Tschornowil erst zwei Jahre später, als es schon zu spät war. Das System blieb bestehen und der alte Apparat funktionierte weiter.

Konnten Sie sich damals vorstellen, dass die Sowjetunion untergeht? Vielleicht konnte sich diese pro-ukrainische Partei „Ruch“ damals einfach nicht vorstellen, dass so ein repressives Organ wie die UdSSR verschwindet?

Die Studentenbewegung war sich damals darüber bewusst, dass ukrainische Studenten inhaftiert werden konnten und dass ein langer Weg und Kampf gegen das sowjetische System bevorstanden. Die ältere Generation passte sich an und gehörte zum kommunistischen System. Die meisten von ihnen gaben nach, nur weil sie eine sentimentale Neigung zur unabhängigen Ukraine hatten. Die Mitglieder der pro-ukrainischen Partei „Ruch“ waren bereit, mit dem Staatsapparat zusammenzuarbeiten.

Und ja, es stimmt, dass man das Zeitfenster der Möglichkeiten verpasste und dass es sich bald schloss. Leider haben das nur wenige Menschen verstanden. Es waren nur ein paar Dutzend.