„Wie lange stehst Du hier schon?“ – „In Deinen Maßstäben gemessen, sehr, sehr lange. Es muss Anfang der 1920er Jahren gewesen sein, als man mich hierher verpflanzte.“
„Oj, dann hast Du sicher schon einiges erlebt!?“ „Ja, aber all das ging wie im Fluge vorbei. Die Goldenen Zwanziger waren in Berlin sehr nett. Das Leben blühte, die Menschen waren gut gelaunt. Aber dann, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise war es schwer. An mir erhängte sich sogar ein Bankangestellter, der alles verloren hatte. Das beichtete er mir, kurz bevor er vom Ast sprang. Es war nicht der erste Tote, den ich zu verzeichnen hatte. Wenige Jahre später knöpfte man hier Einen an mir auf. Er trug so eine seltsame Armbinde mit einem Stern drauf. Das muss im November 1938 gewesen sein. Ich hörte damals viele Scheiben zerbrechen. Zu der Zeit legte ich gerade mein Gewand ab und bereitete mich auf den Winter vor. Wenige Jahre später fielen neben mir Bomben und mich trafen auch Kugeln aus irgendwelchen Gewehren. Schau mal, hier sieht man noch die Narben.“
Der Baum hob einen Ast und das kleine, graue Mädchen machte große Augen, als es das sah. Sie kam vom Prenzlauer Berg an die Mauer, um in diesem November zu sehen, was vor sich ging. Aber sie war so unauffällig und in sich gekehrt, dass sie kaum beachtet wurde. An dem großen Baum blieb sie stehen, setzte sich auf die Mauer und begann zu reden.
„Tut das weh?“ „Nein, längst vergessen, nach all diesen Jahren! Aber da drüben, in dem Haus, da lief irgendwann ein Volksempfänger. So laut, dass auch ich diese flammende Rede vernahm. Der Typ faselte etwas von totalem Krieg. Das schmerzte, denn ich hatte sehr wohl eine Ahnung, was Krieg bedeutet und welches Leid so etwas mit sich bringt. Deshalb bin ich gerade froh, dass die letzten Tage trotz der angespannten Lage so friedlich abliefen.“
„Ja, den Leuten scheint es zu reichen. Sie wollen sich nicht länger einsperren lassen und zu ihrem Glück gezwungen werden. Dabei gibt es doch so einiges Gutes in unserem Land. Die Kinderbetreuung, die Gleichstellung der Frau, die Polykliniken und der Versuch, eine gerechte Gesellschaft zu schaffen!“
„Ach Kindchen, ich hörte viel Gegenteiliges. Einige Jahre bevor Du wohl zur Welt kamst sprach da einmal einer aus dem Volksempfänger von einem Unrechtsregime. Dieses Regime soll ein bis dahin unbekanntes neues Unrecht begangen haben. Und wenige Zeit später redete da einer von Freiheit. Der meinte, er sei ein Berliner, obwohl er sich aber gar nicht so anhörte. Der sprach nämlich in einer anderen Sprache. Soweit ich das interpretieren kann, ging es um diese Mauer, auf der Du nun sitzt. Die wurde damals gebaut. Sie nahm mir die Morgensonne, was mich traurig machte. Aber was sollte ich schon dagegen ausrichten? Und erst Anfang dieses Jahres hörte ich aus dem Volksempfänger eine Stimme, die meinte, dass diese Mauer noch 50 und noch 100 Jahre stehen bleibt.“
„Da hat sich der Sprecher wohl reichlich geirrt, denn nun soll sie fallen! Und mir stülpt man etwas über, was ich vielleicht gar nicht will. Das alles im Namen des großen Wortes Freiheit, mit dem ich nichts anzufangen weiß. Oder weißt Du, was Freiheit sein soll? Du, der nicht vom Fleck weichen kann, dem Reisen ein Fremdwort ist?“
„Nein, meine Freiheit ist wohl eine andere als sich ungehindert und ohne Schikanen von der Stelle bewegen zu können. Mich wird wieder das Licht der aufgehenden Sonne erfreuen können. Und ich werde wohl wieder grüner, weil mir meine Blätter Kraft geben werden. So umgehe ich, zu Papier verarbeitet zu werden. Papier, auf das dann Gesetze gedruckt werden, die Dich in Deiner Freiheit einschränken. Die definieren, was richtig und falsch ist. Die Dir vorschreiben, was Du zu denken und zu lernen hast. Papier, das das Strafmaß festlegt, wenn Du Dich nicht an diese Regeln hältst.“
„Aber gab es bei Euch da drüben im Westen kein Papier? Werden den Menschen nicht auch Vorschriften gemacht? Und geht es denn überhaupt ohne Gesetze?“
„Und das fragst Du einen Baum, der nicht lesen kann! Für mich gibt es Gesetze, die andere ausführen und die mich dann beeinträchtigen. Wie damals, als diese elende Mauer gebaut wurde. Ich hatte kein Mitspracherecht. Aber Du! Und wenn Dir etwas nicht passt, kommt im Westen keiner, der Dich daran hindert, es zu äußern oder Dich sogar dafür einsperrt. Vielmehr, so die Idee, sollt Ihr gemeinsam eine Lösung finden und vernünftige Argumente statt Gewalt benutzen. Das nennt sich Demokratie. Aber die verlangt von Dir auch, eine gemeinsam getroffene Entscheidung zu akzeptieren. Für mich heißt Freiheit deshalb auch, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen und sie nicht an andere zu delegieren. Aber ich als Baum gehöre zu Eurer Umwelt und kann nur versuchen, stark genug zu bleiben, um nicht zu Papier zu werden. Und Du, liebes Mauerblümchen, bekommst von mir den Auftrag, dass ich das auch weiterhin versuchen kann.“
Daraufhin bedankte sich das kleine, graue Mädchen. Sie hüpfte von der Mauer und umarmte den Baum für einige Sekunden. Als sie ihn wieder losließ, schien ihr Kleidchen Farbe bekommen zu haben. Sie rannte in den Westen der untergehenden Sonne entgegen.