Irgendwo am linken oder rechten Ufer des Dnipro, zwischen fünf-, neun- oder sechzehn-stockigen Gebäuden, in irgendeiner Wohnung oder irgendeinem Hof (entweder war dieser Hof dicht mit Pappeln und Fliederbüschen bewachsen oder durch mehrere riesige Blumenbeete unter den Fenstern der Häuser geteilt oder hatte einen Spielplatz mit einer Tafel, auf der man sich für den Spender bedankte), also irgendwo mitten in diesem Umfeld oder vielleicht auch außerhalb davon, lagen sie verstreut oder standen aufgereiht: Kassetten.
Sagen wir, es war eine Wohnung…
In dieser Wohnung standen also diese Videokassetten. In Reih und Glied aufgestellt, waren sie von Staub bedeckt. Sie hatten keine Möglichkeit sich bemerkbar zu machen, und so konnte ihnen niemand ihre Inhalte entlocken. Dabei erinnern sie sich an alles, auch wenn sie nicht wussten, wer ihnen all diese Geschichten vermachte. Wenn man die Kassetten zurückspulte, quoll aus ihnen manchmal das Band und formte Kugeln – wie eine riesige Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Und natürlich lebt diese riesige Schlange unter den Brücken von Kiew, wo sie mit ihren Schuppen ihrer glänzenden Haut all die Narben verdeckt, die an der Brücke hinterlassen wurden.
Welche Kassette hatte nun welche Geschichte?
Ein Band enthielt einen Film vom Oktober 1990 und wurde mit einem Stift gespannt. Dieser Stift wurde einfach auf der Fensterbank des gelben Gebäudes vergessen. An diesem Tag gab es vielleicht zu viel gelb, denn die vergilbten Buchstaben auf dem weißen Velinpapier waren nicht mehr zu erkennen. Plakate wurden aus Pappe von Verpackungskartons gemacht – aus allem, was eine flache, stabile Oberfläche hatte und worauf man schreiben konnte. Die Slogans wurden an der menschengefüllten Universität mit anderen Stiften geschrieben als mit dem, der auf der Fensterbank liegen blieb und mit dem die Kassette gespannt wurde. Gleichzeitig war die Universität leer und blass. Aus ihren Tiefen entstanden Wellen. Die Aufregung stieg. Eine riesige Welle bewegte sich von einem Ufer zum anderen. Dabei war der Dnipro ruhig. Aber die Brücke darüber bebte, weil Menschen im Gleichschritt über die Brücke marschierten.
Also, die Stadt ist voller Menschen, wenn es zu viel Gelb gibt, wenn man Gelb auf Weiß nicht wahrnehmen kann. Noch sind keine anderen Farben erschienen, aber ihre Zeit wird bald kommen. Farben werden zur nonverbalen Ausdrucksform, bilden schließlich Text und dann beginnt Geschichte, auch ohne Kassetten, Filme oder etwas anderem. Die Stadt wird zweifellos beschrieben und gelesen. Dabei ist die Stadt in dieser besonderen Zeit voller Geräusche, als ob sich der gesamte geschriebene Text – Zeilen aus den Sechzigern, Zeilen vielleicht aus einer noch anderen, noch tiefgründigeren Zeit – dazu entschlossen hätte, auf Band zu sprechen. Dann wurde der Text in der ganzen Stadt aufgehängt. Zehn Jahre später sind die Kassetten an Büschen oder Bänken wie Girlanden zu sehen. Eine symbolische Verhüllung der Vergangenheit.
Geschichten werden auf Papier geschrieben, der Stift wird auf der Fensterbank vergessen, Pappe wird für Plakate verwendet, Slogans werden in Zitate zerlegt, Menschen werden mit Plakaten fotografiert. Die Fotos werden hervorgehoben, Videos wiederholen sich, der Text wird ausgeführt, manifestiert sich, wird abgespielt, geht aber nicht verloren, sondern wird interpretiert.
„Geschichte ist in Granit gemeißelt“ – natürlich könnte man das sagen. Geschichte wird statt den Aufzeichnungen von Vorlesungen auf den Titelseiten der Zeitungen geschrieben, die auf dem Maidan hundertfach verteilt werden. Geschichte wird auf den Titelseiten der selbstherausgegebenen Zeitungen und in alten Büchern geschrieben. Oh, diese Gewohnheit, Datum und Ort eines gekauften oder geschenkten Buchs darin einzutragen – eine geschichtsträchtige Gewohnheit!
Geschichten werden nicht nur auf Papier, sondern auch auf Video aufgezeichnet. Texte erscheinen allein, kommen in geschäftigen Schwärmen, die vom Wind, von flatterndem Stoff, Papier und ihrer inneren Materie getragen werden. Der Schreibprozess verwandelt sich in eine spielerische Wiederholung. Was verlieren wir, wenn wir etwas aufgeben? Eine Wiederholung nach der anderen. Nachrichten am Morgen, die Ausgabe einer Zeitung, die ersten Schlagzeilen, eine Handvoll Leute. Seit gestern sind es mehr Menschen, und die Ereignisse eskalieren immer schneller. Aber es gibt keine Opfer, obwohl ausreichend provoziert wird. Jemand verbrennt sein Parteibuch. Dies ist auch eine Art, mit Texten zu arbeiten. Wieder und wieder anschauen? Der Kassettenrekorder klickt manchmal.
Musik läuft vom Band. Garagengruppen machen die beste und lauteste Musik, und man spielt nur lässigen Grunge. Der Text schallt von den Bändern, löst sich und fällt herunter. Unvermittelt, strahlend, hemmungslos.
Die Berichterstattung beginnt am ersten Tag der geplanten Aktion. Oder war es eine gewollt-spontane, ungezügelte Aktion? Ist es Ausdruck des Willens, eines aufrichtigen Zynismus, einer Rollverteilung? Bleiben diese solange der Stift auf der Fensterbank liegt und werden Menschen wegen unzähliger Fensterbänke in Gruppen eingeteilt?
Der Text stammt von Plakaten, schallt aus Lautsprechern und entsteht durch Stille, aus formulierten Forderungen und Hoffnungen, die sich in Wörtern verkörpern. Letztlich wird die Welt durch Worte erschaffen. Schließlich reichen sechzehn Tage für ausreichend viele Worte, um den Granit unter den Fundamenten der Gebäude zu erschüttern, egal wie mächtig und konstruktivistisch sie auch gewesen sein mögen.
Man sagt „stark wie Granit“ – doch wie stark ist Granit eigentlich? Konzentriert sich seine Stärke darauf, Ereignisse als Erinnerung zu speichern?
Granit erinnert sich an alles, und die Stadt ist von Erinnerungen geprägt, so dass Kyjiw tatsächlich ein riesiges Archiv ist. Jacques Derrida schrieb vermeintlich: “Archivierung ist auch die Schaffung von Ereignissen in der Vergangenheit und nicht nur deren Aufzeichnung”. Aber Archive werden von Menschen erstellt.
oder –
Die Welt der Kassetten und Abspielgeräte schließt sich wie ein Band auf einer Rolle. Ein Bericht folgt…