– Mama, wann hast Du Papa geheiratet?
– Vor 30 Jahren
– Oho! Das ist wirklich lange her! Nicht wahr, Mama?
Der neunjährige Junge sah seiner Mutter fest ins Gesicht. Seine braunen Augen glänzten vor Neugier.
– Ja, mein Sohn, das ist lange her.
– Und welches Jahr war das?
– Hey, versuch selbst zu rechnen. Du kannst das schon.
Der Junge dachte kurz nach, streckte die Zunge heraus und zählte mit den Fingern.
-Das war ja lange vor dem Jahr 2000?
Die Frau mit den gleichen braunen Augen und an manchen Stellen mit bereits ergrautem Haar lächelte sanft über seine Direktheit. Ihr jüngster Sohn war ihr sehr ähnlich.
– Ja, 10 Jahre. Es war 1990.
– Wow! Und war es ein glückliches Jahr?
Das innere Bild der Frau änderte sich schlagartig. Statt der schönen Hochzeit erinnerte sie sich plötzlich an die tägliche Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Überall Armut und düstere Gesichter. Alles grau… Nur in den Zeitungen, im Radio und Fernsehen wurde Glück suggeriert.
– Nun, es wurde viel besser, als Dein Vater und ich geheiratet hatten.
– Und davor war es schlecht?
– Ja, das kann man so sagen.
– Aber warum?
Es musste sich etwas ändern. Die Menschen waren verzweifelt. Unsere Sprache wurde unterdrückt. Keine Bildung, keine Freiheit, überall nur Enttäuschung. Endlose Vorgaben „von oben“. Die Leute hatten das Leben wie bitteren Rettich satt. All die Demütigungen und Beleidigungen, die über viele Jahre andauerten. In diesem Jahr schienen sie ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Und dann war wieder von Aufständen die Rede, von einem Staatsstreich, dass die Menschen selbst etwas ändern mussten. Doch das war schwer.
– Mama?
– Es war einfach schwer.
– Aber warum?
Ja, warum eigentlich? Warum hatten sie so ein Leben? Was war mit den Freiheiten passiert, die unter Bohdan Chmelnyzkyj errungen wurden? Wie konnte das passieren?
– Ich weiß es nicht, mein Junge. Aus irgendeinem Grund war das Leben damals schwierig. Sie wollten nicht, dass wir ukrainisch sprechen.
– Wie bitte!?! Ist denn unsere Sprache schlecht?
– Natürlich nicht. Sie wollten damals einfach nicht unsere Sprache hören. Und wir wollten damals so viel lernen. Wir hätten alles auf der Welt studieren können, wenn man uns hätte lassen.
– Wirklich? Und was durftet Ihr nicht?
Der Kleine war augenblicklich sehr ernst, dass er sie unwillkürlich an ihren kleinen Bruder erinnerte – mit dem gleichen runden, kindlichen und doch schon so erwachsenen Gesicht. In jenem Herbst sahen alle Studenten so aus, auch sie und ihr Mann.
– Wir durften studieren, aber nicht das, was wir wollten.
– Und was habt Ihr gemacht?
– Die Studenten kamen zusammen und entschieden, etwas zu unternehmen, um sich Gehör zu verschaffen. – Die Augen des Jungen füllten sich mit Neugierde. Als die Frau seiner Aufmerksamkeit sicher war, führ sie fort, aber senkte ihre Stimme, um das Gesagte zu unterstreichen – Sie begannen zu hungern.
– Hungern?
– Ja, zu hungern. Das heißt nichts essen. Überhaupt nichts essen.
– Nichts essen? Wie kann man nichts essen? Essen ist immer lecker, besonders bei Oma. Aber warum haben sie das gemacht?
– Weil sie friedlich waren. – Dabei dachte die Frau bei sich, dass es lange dauerte, bis aufrichtige und friedliebende Menschen es bemerkten. Aber das Hungern war ihr Protest – wütend und unerbittlich – zum Besseren. – Sie wollten keine Waffen erheben oder jemanden töten. Lieber wollten sie selbst sterben. Kann man einfach töten?
– Nein, das ergibt keinen Sinn.
Der Junge runzelte die Stirn.
– Haben sie wirklich gehungert, um wahrgenommen zu werden?
– Ja, das haben sie wirklich. Es waren viele. Und es war lange. Sie haben über eine Woche lang gehungert.
– Über eine Woche!?! Da kann man ja verhungern!
– Aber sie hatten keine Angst vor dem Tod. Sie wollten eine bessere Zukunft und glückliche Menschen werden.
– Ja, sie mochten ihr Leben nicht.
Das Kind war ganz still und nachdenklich.
– Und was dann? Sie haben über eine Woche gehungert und bekamen dann Aufmerksamkeit? Was ist als nächstes passiert?
– Dann hat sich ihr Leben wirklich geändert. Sie bekamen, was sie wollten. Und noch mehr, denn sie wurden für viele Menschen zum Vorbild. Bald änderte sich das Leben des ganzen Landes und nicht nur das der Studenten.
– Haben auch andere Menschen gehungert?
Die Frau lachte.
– Hungern heißt nicht, ein gutes Vorbild zu sein. Vorbilder sind diejenigen, die etwas Gutes tun und keine Angst haben, das zu verteidigen, was sie wollen und dabei menschlich bleiben.
– Natürlich…
Der Junge war sichtlich beeindruckt von der Geschichte. Er saß immer noch still da und dachte darüber nach, was seine Mutter erzählte. Die entschied, ihre kleine Geschichtsstunde fortzusetzen.
– Weißt Du, was wir am 24. August feiern?
– Klar, den Tag der Unabhängigkeit!
– Ja, aber weißt Du, was Unabhängigkeit ist?
– Wenn Du machen kannst, was Du willst.
– Ja, aber unser Land war nicht immer unabhängig. Lange durften wir nicht das tun, was wir wollten. 1990 gab es keinen solchen Feiertag. Und heute würde es ihn auch nicht geben, wären die Studenten damals nicht in den Hungerstreik getreten. Manche Leute sagen, dass das Hungern der Studenten der Beginn unserer heutigen Unabhängigkeit war.
– Aber warum feiert man dann nicht den Tag, als sie hungerten?
– Weil es eine kleine, wenn auch sehr wichtige Studentenrevolution war. Viele wissen von dieser Geschichte gar nichts.
– Aber ich kenne sie jetzt!
Der Junge richtete sich stolz auf und begann breit zu lächeln. Seine Mutter lächelte zurück.
– Ja, jetzt weißt Du davon!
Kurz darauf verzog sich die Mine des Jungen, als ob er etwas vergessen hätte.
– Und wie heißt diese Studentenrevolution?
– Revolution auf Granit.