Die wahre Geschichte eines Teppichs

Svitlana Nalapko

Ich wurde 1914 geboren… oder 1917… oder noch später… Ich erinnere mich nicht mehr… Oh, Entschuldigung! Ich habe mich nicht vorgestellt: Ich bin ein Wandteppich. Ich freue mich, euch, liebe Leser und Leserinnen, kennenzulernen.

Meine Geschichte ist ereignisreich und wechselvoll… Ich habe Krieg und Hunger erlebt…Wenn ich daran denke, treten mir die Tränen in die Augen… Oh, erwähnen wir das nicht. Mit einem fröhlichen Lächeln erinnere ich mich an meine ersten Besitzer. Sie haben mich auf einem Markt mit 20% Rabatt gekauft und in einer kleinen und gemütlichen Chruschtschowka-Wohnung an die Wand gehängt. Auf allen Familienfesten diente ich als perfektester Hintergrund für Fotos. Ich teilte mit meiner Familie die besten Momente aber auch Leid und Kummer.

Jeder goldene Herbst war für mich eine echte Feier. An so einem der herbstlichen sonnigen Tage wurde ich von meiner Familie gereinigt. Es war wirklich ein tolles Geschehen: eine Reinigung auf dem gemeinsamen Hof mit Technomusik und herzlichem Lachen von in Sportanzüge gekleideten Sowjetteenagers. Der besondere Herbst war für mich im Jahr 1990. Meine Besitzer haben mich als Geschenk ihren Verwandten nach Deutschland geschickt. Die Züge sahen damals nicht so schick wie heute aus und ich bin voll im Staub gekommen. Folglich wartete auf mich wieder Reinigung, eine Herbstreinigung. Nachdem ging etwas ganz Ungewöhnliches vor sich. Aus einem Wandteppich verwandelte ich mich in einen Bodenteppich. Es war eine kolossale Veränderung für mich. Doch habe ich mich darüber nur gefreut. Da konnte ich noch nützlicher sein. Ich erwärmte nackte Kinderfüße im Winter und war eine ideale Grundlage für Joga-Übungen im Sommer. Nun erhole ich mich auf dem Lande (auf der Datscha). Herrliche Zeiten sind gekommen. Jeder Herbst werde ich wieder gereinigt, um fit und jung zu bleiben.

An denjenigen Herbst, einen lebensveränderten Herbst erinnere ich mich bis jetzt. Wahrscheinlich wartet auf mich noch so ein Herbst mit schönem Wetter und lebenswichtigen Ereignissen. Wer weiß… Mal sehen.